Wolfgang Petrick

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Der Realismus lebendiger Existenz

Im Mai 2022 wurde in den Räumen des von Anna-Julia und Rik Reinking gegründeten Woods Art Institute in der Nähe von Hamburg als erste Ausstellung eine umfassende Retrospektive des Werkes von Wolfgang Petrick eröffnet. Zu sehen waren Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Installationen aus mehr als sechzig Jahren. Aufgrund der Breite der Präsentation wurden dabei die grundlegenden Prinzipien seines Œuvres deutlicher erkennbar, als das bei Galerieausstellungen der jeweils jüngsten Produktion möglich ist.

Üblicherweise wird Petricks Werk dem „kritischen Realismus“ zugerechnet, einer Westberliner Strömung, die sich, inspiriert durch den politischen Aufruhr der Zeit um 1968, an der Malerei von Otto Dix und Georges Grosz orientierte. Als Etikett ist diese Zuordnung brauchbar, doch ist damit naturgemäß noch nicht gesagt, was unter „Realismus“ zu verstehen ist. Dass es hierzu verschiedene und auch unvereinbare Auffassungen geben kann, erwies sich bereits in der Kontroverse zwischen Bertold Brecht und György Lukács. Was man bisher aber noch nicht gesehen hat, ist die Verbindung zum sogenannten neorealismo im italienischen Film.

In Roberto Rossellinis Germania Anno Zero streunt ein zwölfjähriger Junge durch das von Bomben zerstörte Berlin, bis er unvermittelt vom vierten Stock eines leerstehenden Hauses in den Tod springt. Petrick, der bei Kriegsende sogar noch etwas jünger war, vagabundierte als Kind ebenfalls durch die Ruinen der verwüsteten Stadt, was nicht nur abenteuerlich war, sondern auch ein Bewusstsein der ständigen Gegenwart des Todes bewirkte.

Wenn das Leben vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Todes erscheint, wird es, aller besonderen Formen beraubt, zum „nackten“ Leben. Als solches erscheint es bei Petrick immer wieder in Kombinationen, Vermischungen, Übergängen, Umwandlungen von menschlichen, tierischen, und pflanzlichen Organismen. Das Leben wird zu einer Kraft, die sich in unendlichen vielen Gestalten realisieren kann. Dementsprechend ist die Mutation ein zentrales Prinzip in Petricks Bildern. Man sieht Lebewesen, die sich vereinigen oder bekämpfen, bizarre Gestalten, die in den Raum aus-greifen, aus ihren Vitrinen ausbrechen, um sich zu verbergen und wieder neue Gestalten anzunehmen. Wilde Wucherungen, Metamorphosen, Mutationen, Metastasen – das fortwährende Drama des Lebens in all seinen rätselhaften Verkörperungen.

Es ist kein Zufall, dass Petrick, bevor er an die Kunsthoch-schule ging, zwei Semester Biologie studierte. Und es ist auch kein Zufall, dass Petrick zeitlebens ein Zeichner war. Die Zeichnung grenzt ab, sie definiert Figuren, die auf einander einwirken und sich gegen solche Einwirkungen zur Wehr setzen. Während die Malerei verwischt, verbindet und nivelliert, verpflichtet sich die Zeichnung dem principium individuationis, denn dieses Prinzip ist das Gesetz des Lebens, das sich nur in unteilbaren Einzelindividuen verwirklicht.

Karlheinz Lüdeking